Dr. Asserate: "Afrika wohin? – Politik, Wirtschaft und Migration"

„>>Lions on the move<< betitelte der amerikanische Beratungskonzern McKinsey seine letzte Afrika-Analyse: „Die Löwen brechen auf“ ist eine Anspielung auf die asiatischen Tigerstaaten. 27 der 30 größten Volkswirtschaften Afrikas haben seit der Jahrtausendwende kräftig aufgeholt. Zwischen 2000 und 2008 lagen die Wachstumsraten bei fünf bis zehn Prozent pro Jahr und haben sich damit im Vergleich zu den davor liegenden Jahrzehnten verdoppelt.“

Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate sprach in seinem Vortrag bei Seminar des Deutsch-Äthiopischen Vereins im März 2019 viel über die positiven Entwicklungen in Afrika, der wirtschaftliche Aufschwung und auch eine zunehmende Krisen-Resilienz. Für die DÄV-Website und unseren Newsletter haben wir vor allem seine Analyse der weiter bestehenden Probleme und Asserates politische Forderungen zusammengestellt:

„Afrika besteht heute aus 55 Staaten. Deren Grenzen entsprechen weitgehend den Demarkationslinien, die von den Kolonialmächten in den Kontinent geschnitten wurden. Oft sind sie geradezu widersinnig. Sie trennen Völker oder zwängen andererseits viele unterschiedliche Ethnien unter eine Regierung. Das kulturelle Erbe der vielen unterschiedlichen Völker ist vielleicht der größte Schatz. Die Verschiedenheit und Uneinheitlichkeit der Völker und Menschen Afrikas, haben aber auch tiefe Gräben zwischen ihre Kulturen gezogen. Darin sehe ich eine der Hauptursachen für das Elend des Kontinents. Widerstreitende Ansichten werden in Afrika oft nur schwer ertragen. In den afrikanischen Sprachen gibt es kaum ein Wort, das dem europäischen Begriff für „Gegner“ entsprechen würde, dessen unterschiedliche Meinungen man respektiert. In Afrika ist der Andersdenkende schnell der Feind, den es auszuschalten gibt. (…)

Während Afrika sich bemüht in die globalisierte Welt einzutreten, wird es seit ungefähr einem Jahrzehnt von einer neuen Krise heimgesucht: Die neue afrikanische Völkerwanderung. Die Welt ist aus den Fugen. 65,3 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Blutige Konflikte und die Angst vor Verfolgung haben sie aus ihrer Heimat vertrieben. Damit ist, wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in seinem im Sommer 2016 vorgestellten Bericht ausführt, jeder 113. Bewohner der Erde betroffen. (…) Und es trifft vor allem Kinder und Jugendliche: Über die Hälfte der Flüchtlinge ist unter 18 Jahre alt. Weltweit gibt es derzeit 65 Millionen Flüchtlinge – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Frankreichs. (…) Aber nicht alle Flüchtlinge haben ihr Heimatland verlassen: Fast zwei Drittel, 40,8 Millionen, hielten sich Ende 2015 innerhalb der Grenzen ihres Staates auf; 21,3 Millionen fanden in fremden Ländern Zuflucht. Weitere 3,2 Millionen Menschen warteten im Ausland auf eine Entscheidung über ihren Antrag auf Asyl.

Was sind nun die Fluchtursachen, die jeden zehnten Afrikaner in die westliche Hemisphäre vertreiben? Eine große Rolle spielt hierbei das Thema Bevölkerungswachstum in Afrika. Es ist vor allem im Vergleich zu Asien (besonders zu China und Indien) augenscheinlich, dass die Bemühungen um die Reduktion der Armut in Afrika nicht voranschreiten. Hauptursache ist laut Experten die hohe Bevölkerungsvermehrung. Es wird geschätzt, dass sich die heute eine Milliarde Menschen in Subsahara Afrika (SSA) bis 2050 verdoppeln werden. Für eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen durch wirtschaftliches Wachstum ist eine abnehmende Geburtenrate unabdingbar. Hier könnte Deutschland Vorbild sein: Auch im 19 Jahrhundert war die Geburtenrate hierzulande erdrückend. Das änderte sich erste mit der Einführung der Rentenversicherung durch Bismarcks Sozialgesetze 1891. Schon zu Beginn des neuen Jahrhunderts gingen die Geburten in Deutschland zurück.

Nebst der vorgenannten exorbitanten Geburtenrate ist der nächste Grund der perspektivlosen afrikanischen Jugend ihre Heimatländer zu verlassen, der unfaire Welthandel. (…) Denn worüber die EU bei der Diskussion um Afrika und Migration derzeit am allerwenigsten reden möchte, ist, ihre skandalöse Landwirtschafts- und Handelspolitik, mit der sie das globale Ungleichgewicht zementiert. Mit milliardenschweren Zuschüssen wird die exportorientierte europäische Agrarindustrie Jahr für Jahr unterstützt. Mehr als 40 Prozent des gesamten Budgets der EU fließen in Agrarsubventionen – über 40 Milliarden Euro Direktzahlungen waren es allein im Jahr 2014. Dazu kommen weitere umfangreiche Ausfuhrprämien. Dies führt dazu, dass die europäische Agrarindustrie die Entwicklungsländer mit konkurrenzlos billigen Produkten überflutet. Zum Beispiel mit Hähnchenfleisch. (…) Fast überall in Afrika lässt sich die verheerende Wirkung der europäischen Subventions- und Dumpingpolitik beobachten: In Burkina Faso führten die Importe von Billigmilchpulver aus der EU vor einigen Jahren dazu, dass die Mehrzahl der nomadischen Kleinbauern ihre Existenzgrundlage verlor. (…) In Ghana haben Importe von Tomatenmark aus der EU zum Niedergang der einheimischen Tomatenproduktion geführt. (…) Die in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) zusammengeschlossenen Staaten haben vor kurzem unter massivem Druck der EU mit dieser ein sogenanntes Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) unterzeichnet, das den Import von europäischen Waren noch weiter erleichtert. Bislang gewährte Europa diesen Ländern einen Sonderstatus. Während europäische Händler Zölle entrichten mussten, wenn sie ihre Güter nach Afrika ausführten, wurde Händlern bei der Ausfuhr von Gütern nach Europa Zollfreiheit gewährt. Nun sollen die afrikanischen Länder im Rahmen des neuen Abkommens ihre Zölle auf Einfuhren aus der EU ebenfalls streichen – es soll Freihandel herrschen. (…)

Auch die besten Absichten können fatale Wirkungen haben: Kostenlose Lebensmittelhilfe zerstört den Markt für die lokale Landwirtschaft. Viel zu oft erreichen die Entwicklungsgelder nicht diejenigen, für die sie bestimmt sind – vor allem, wenn sie als direkte Budgethilfe überwiesen werden. In den Händen der Kleptokraten wird das Geld zum Instrument des Machterhalts und liefert das Schmiermittel für die grassierende Korruption. Von Afrikas Eliten hört man häufig den Spruch: „You pretend to help us and we pretend to develop.“ – „Ihr tut so, als ob ihr uns helfen würdet und wir tun so, als würden wir uns entwickeln.“ Solange dieser Satz gilt, wird sich in Afrika nichts zum Guten verändern. Vor allem in einer Hinsicht erweist sich die Abhängigkeit von den Hilfszahlungen als fatal: Sie lähmt die Eigeninitiative der Menschen. Bei nicht wenigen Afrikanern hat sich inzwischen die Haltung durchgesetzt, andere würden für sie ihre Probleme lösen. Aber kein Land und kein Mensch empfindet es als würdig, zum ewigen Almosenempfänger abgestempelt zu sein. (…) Heute gibt es afrikanische Intellektuelle sie sogar so weit gehen, die Einstellung sämtlicher Entwicklungshilfen zu fordern. Aber solche radikal-populistische Forderungen bringen nichts. Viele Entwicklungshelfer in Afrika engagieren sich in höchst sinnvollen Projekten. Unbestritten ist auch, dass die Nothilfe in den vergangenen Jahrzehnten Millionen Afrikaner vor dem Hungertod gerettet hat. Was indes unbedingt nötig wäre, ist ein unabhängiges Kontrollgremium, das die Wirksamkeit von entwicklungspolitischen Projekten auf den Prüfstand stellt, wie es der Diplomat und langjährige deutsche Botschafter von Kamerun, Volker Seitz, vorgeschlagen hat: Ein internationaler „Rechnungshof für Entwicklungshilfe“ nach dem gleichnamigen deutschen Vorbild, der Jahr für Jahr den Umgang der öffentlichen Hand mit den Steuergeldern der Bürger unter die Lupe nimmt. Denn Hilfe zur Entwicklung ist nur dann sinnvoll, wenn sie tatsächlich die Eigeninitiative der Menschen fördert. (…)

Mit wem kann ein „Marshallplan mit Afrika“ abgeschlossen werden? Wie will man verhindern, dass das ganze Geld einmal mehr in den Taschen der afrikanischen Autokraten landet, die damit ihre Macht zementieren? „Ein Land kann nicht von außen entwickelt werden“, erklärt Angus Deaton in Bezug auf die Entwicklungshilfe. „Länder entwickeln sich von innen. Dazu braucht es eine Regierung und eine Bevölkerung, die gemeinsam auf Entwicklungsziele hinarbeiten.“ Dies wäre die wichtigste Aufgabe für Europas Regierungen: Sie müssen begreifen, dass wirtschaftliche Entwicklung ohne politische Entwicklung nicht zu haben ist – auch nicht in Afrika. Europa muss endlich Schluss machen mit der fatalen Appeasement-Politik gegenüber Afrikas Potentaten. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, den Regierungen vorzuschreiben, wie sie ihr Land zu führen haben oder ihnen das Staatsmodell der westlichen Demokratien zu oktroyieren. Aber man sollte doch die Einhaltung der Grundsätze einfordern, die Afrikas Staaten selbst als verbindlich anerkannt haben. Sie alle haben die Grundrechtecharta der Vereinten Nationen unterzeichnet und sich zu den Menschenrechten und zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit bekannt. Wer in Afrika nicht bereit ist, diesen Grundsätzen zu folgen, dem sollte die Unterstützung gestrichen werden. (…) Aber, so lautet der oft gehörte Einwand, wird Europa dann nicht seinen Einfluss auf den Nachbarkontinent verlieren? Treibt es Afrika so nicht geradewegs in die Arme Chinas, das seine Unterstützung und wirtschaftliche Zusammenarbeit erklärtermaßen nicht von politischen Forderungen abhängig macht und das Prinzip der Nichteinmischung hochhält? Ich halte dies für ein vorgeschobenes Argument. Denn längst haben die meisten Afrikaner erkannt, dass China in Afrika seine eigene Agenda verfolgt. Ihnen ist nicht verborgen geblieben, dass Peking vor allem darauf aus ist, die afrikanischen Bodenschätze auszubeuten, die es für die Entwicklung seiner Industrie braucht, und an Nachhaltigkeit nicht interessiert ist. (…) Viele der vollmundigen Ankündigungen und Versprechungen Chinas, in die Infrastruktur Afrikas zu investieren, sind niemals umgesetzt worden. Und die billigen Konsumprodukte, mit denen China die afrikanischen Märkte überflutet hat, haben sein Image unter Afrikas Konsumenten nachhaltig ramponiert: Fernseher, die beim ersten Stromausfall ihren Geist aufgeben; Handys, deren Akkus kaum ein paar Wochen halten; T-Shirts, die sich bei der ersten Wäsche in ihre Bestandteile auflösen; Kondome, die platzen: (…)

Bei allen Diskussionen darum, wie man Afrika am besten helfen kann, darf nicht vergessen werden: Die besten Entwicklungshilfen sind gute Wirtschaftsbeziehungen – wenn sie auf Augenhöhe stattfinden. Viel wäre schon gewonnen, wenn Deutschland und die anderen Nationen Europas ihren Firmen, die in Afrika investieren wollen, bessere Sicherheiten gewährten. Peking bietet jedem chinesischen Unternehmen, das in Afrika mindestens eine Million US-Dollar investiert, eine hundertprozentige Staatsgarantie an – ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil für Chinas Firmen in Afrika. Deutsche Firmen sind im Vergleich zu Frankreich, England und den USA in Afrika stark unterrepräsentiert. Berlin sollte seinen Etat für Hermesbürgschaften für mittelständische Unternehmen, die in Afrika investieren wollen, großzügig aufstocken – und die Investitionsgarantien dabei strikt an das Kriterium der Nachhaltigkeit knüpfen. Das wäre ein sinnvoller Schritt zur Entwicklung Afrikas. (…)

Afrika benötigt eine breit angelegte Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft: Durch Mikrokredite für die verarbeitenden Firmen vor Ort; durch den Bau von Straßen, um den Waren den Marktzugang zu erleichtern; durch den Stopp der Einfuhr von Dumpingprodukten, die den örtlichen Produzenten das Wasser abgraben. Afrika braucht eine Hilfe zur Entwicklung, die nachhaltig ist und auf Eigeninitiative setzt. Dabei spielt die Förderung der kleinen Leute durch Mikrokredite eine zentrale Rolle. Denn schon kleine Summen reichen oft aus, damit sich die Menschen eine eigene Einkommensquelle erschließen können und sich so aus der Armutsfalle befreien. Vor allem gilt es, die Frauen zu fördern – sie sind der Schlüssel zu Afrikas Zukunft. Bei der Rückzahlung von Kleinkrediten gelten sie als wesentlich zuverlässiger als Männer; sie geben ihr Geld nicht für Schnaps aus und sind weniger anfällig für Korruption. In den Bereichen Gesundheit und Erziehung kommt es besonders auf sie an: Wenn der Bildungsgrad der Mütter steigt, sinkt die Säuglings- und Kindersterblichkeit. Und je länger die Mädchen in die Schule gehen, desto niedriger ist später die Zahl ihrer Kinder.

Wenn Afrika sein Problem der Bevölkerungsentwicklung in den Griff bekommen will, muss es auf die Frauen setzen. Denn eines ist sicher: Niemand von außen – nicht Amerika, nicht Europa und auch nicht China – wird Afrika „retten“ können. Das kann Afrika nur selbst, wenn seine Menschen wieder Zuversicht und den Glauben an die eigene Stärke gewinnen. Erst dann wird der Exodus der Talente aus Afrika ein Ende finden. Die Afrikaner müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Europa kann und sollte ihnen dabei helfen: Damit aus dem ausblutenden Kontinent Afrika ein Kontinent der Zukunft wird. (…)“

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