„Als Wissenschaftler bestehe ich vehement auf der Unterscheidung zwischen Fakten und Meinungen“

Etwas von Flucht hatte der Ausstieg von Andreas Wetter aus der von ihm selbst gegründeten Facebookgruppe „Äthiopien und das Horn von Afrika“. Am 22. August überraschte er die rund 2.800 Gruppenmitglieder mit diesem Post: „Liebe Mitglieder, ich habe diese Gruppe vor etwas mehr als 9 Jahren gegründet. Wegen einer Reihe von Gründen habe ich mich jetzt entschieden, mich aus der Gruppe zurückzuziehen, d. h. mein inhaltliches Engagement einzustellen und mich an Diskussionen nicht mehr zu beteiligen. Wegen technischer Zwänge bleibe ich vorerst weiterhin einer der Administratoren bis eine geeignete Lösung gefunden wurde.“ Auch unser Newsletter und unsere Facebookseite hat sehr vom Engagement des Sprachwissenschaftlers profitiert – dafür gilt ihm ein großer Dank! Wir haben mit ihm über seinen Abgang gesprochen.

DÄV: Am 22. August haben Sie als aktives Mitglied der Facebook-Gruppe „Äthiopien und das Horn von Afrika“ hingeworfen, die Sie vor neun Jahren gegründet habe. Seitdem kein Post mehr kein Kommentar. Was war der Grund hierfür?

Wetter: Einerseits nahm die aktive Teilnahme sehr viel Zeit in Anspruch, über die ich eigentlich nicht verfüge. Andererseits gab es seit mehreren Wochen eine Entwicklung in Beiträgen und Kommentaren, mit der ich nicht mehr mitgehen wollte. Als Alternative gab es dann, die Gruppe zu schließen, oder selbst zu gehen. Indem ich technisch Administrator blieb, habe ich einen Mittelweg gewählt, auch aus Fairness gegenüber den anderen Admins, die ich nicht mit dem Verwaltungsaufwand einer von mir initiierten Gruppe alleine lassen wollte.

Gab es ein Ereignis, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat?

Ja, die Reaktionen auf die Toten im Zuge der Demonstrationen in den Oromogebieten in der zweiten Augusthälfte.

Die Woche vorher, seit dem Mord an Hachalu waren bestimmt enorm intensiv – immer wieder mussten sie zur Disziplin mahnen, Streit schlichten, sich erklären. War Ihr Abgang eine reine Abnutzungserscheinung nach neun Jahren oder hat sich tatsächlich etwas in der Art geändert wie die Diskussionen geführt werden?

Extreme Kommentare bin ich ja aus der Gruppe „Historical Photos from the Horn of Africa“ gewohnt gewesen. In dieser Gruppe, die ich 2015 gegründet hatte, und die ca. 200 000 Mitglieder hat, gab es regelmäßig sehr heftige Auseinandersetzungen. Da wurde man immer mal wieder persönlich beleidigt und sogar mit Gewalt bedroht. Von daher habe ich mir eigentlich eine dicke Haut gegenüber den Umgangstönen zugelegt. Dort musste ich dann aber auch aus Zeitgründen die Administrationstätigkeit einstellen.

Und ja, in der Gruppe „Äthiopien und das Horn von Afrika“ hatte sich der „Diskurs“ seit dem Mord an Hachalu und vor allem nach den gezielten Morden an Amharen in einigen Orten der Oromia Region verändert. In den Beiträgen und Kommentaren sind dann Haltungen deutlich geworden, mit denen ich mich einfach nicht mehr auseinandersetzen wollte.

Sind die Positionen auch extremer geworden?

Das weiß ich nicht. Häufig werden extreme Positionen ja nur in Situationen geäußert, die durch dramatische Ereignisse ausgelöst werden. So war es sicherlich auch hier. Dabei sind aber auch zugrunde liegende Haltungen sichtbar geworden, die einer grundsätzlichen Ablehnung der Oromo gleichkommen.

Sie haben sich immer vehement für die Trennung von Fakten und Meinung eingesetzt – Aber ist so eine Trennung überhaupt noch möglich? Vor allem in Äthiopien, wo von allen Seiten „historische Fakten“ die eigenen politischen Forderungen unterstützen?

Als Wissenschaftler bestehe ich vehement auf der Unterscheidung zwischen Fakten und Meinungen. Das eine sind Sachverhalte, die belegbar sind, das andere persönliche Haltungen und Ideen. Was von den verschiedenen Seiten in den mit Äthiopien verbundenen politischen Auseinandersetzungen als „Fakten“ bezeichnet wird, ist es ja in der Regel gerade nicht. Das sind ausgedünnte und selektive Lesarten und Interpretationen von komplexen historischen Ereignissen und Entwicklungen.

Was machen Sie seitdem mit der vielen freien Zeit? Fehlt Ihnen was?

Also zu mehr an Freizeit hat die Einstellung der Administratortätigkeit nicht geführt. Das war ja etwas, das so nebenher lief. Im Übrigen, gibt es noch drei weitere Gruppen, die ich gegründet habe, und in denen ich auch noch Admin bin: „Horn of Africa Studies Group“, „Afrikawissenschaften“ und „African Cassettes“. Ich bin da also weiterhin gut beschäftigt.

Was ich etwas bedaure ist, dass ich das Posten von Nachrichten und Artikeln zum Thema „Horn von Afrika“ eingestellt habe. Vielleicht findet sich da eine andere Lösung.

Als freiberuflicher Afrikanist und Afrikalinguist bleiben Sie ja dem Thema Äthiopien weiterhin verbunden – welche Form nimmt Ihr Engagement für die Region jetzt ein?

Wie gesagt, die Gruppe war ja nur etwas, das nebenbei lief. Ich arbeite weiterhin als Sprachwissenschaftler zu Äthiopien, leiste wissenschaftliche Dienstleitungen und bereite einige wissenschaftlich Projekte vor.

Haben Sie eine Vorstellung davon wie die Geschichte in Äthiopien in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird?

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Ist Äthiopien in dieser Form noch zu retten? Oder ist es gar eine Chance, wenn das „große alte Reich“ in mehrere kleine Nationen zerfällt?

Ich kann mir kein realistisches Scenario vorstellen, in dem Äthiopien zerfallen würde. Meiner Erfahrung nach werden die politischen Entwicklungen aus der Ferne in der Regel viel dramatischer bewertet als vor Ort.

Mehr zu Andreas Wetter auf seiner Website

 

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