Ein Äthiopien-Heft von „Aus Politik und Zeitgeschichte“
Mit Beiträgen von Dr. Asfa-Wossen Asserate, Dominic Johnson, Wolbert Smidt und Nicole Hirt. Kommentar unseres Mitglieds Klaus Schmitt: „Der Beitrag von Dominic Johnson in diesem Sammelband ist eine sehr gute Zusammenfassung der politischen Entwicklung seit Haile Selassie und insbesondere seit dem Beginn der Proteste 2015 und der folgenden Machtübernahme durch Abiy Ahmed. Johnson ist der Afrikaspezialist der taz, bislang nicht unbedingt auf Äthiopien spezialisiert. Anscheinend hat im gerade dies geholfen, die wichtigsten Entwicklungen und Faktoren so prägnant zusammenzufassen, wie es uns langjährigen „Insidern“ mit vielen Detailkenntnissen selbst bei politischer Neutralität schwer fällt. Zemelak Ayele und Julia Günter betrachten den eng damit zusammenhängenden ethnischen Föderalismus etwas detaillierter und zumindest teilweise aus der vor-Ort-Perspektive, die mehr lokale Ereignisse wie etwa innerhalb der EPRDF und Meinungen im Zeitverlauf wiedergibt. Der Leser versteht besser, wie Machtausübung durch verschiedenen Ebenen hindurch von der Zentralregierung abwärts funktioniert hat. Eben das, was jetzt zerfällt und zur neuen Unübersichtlichkeit mit sehr vielen Konfliktlinien und Gewalt führt. Auch sehr empfehlenswert.
Was mir bei beiden Analysen fehlt ist der Gedanke, dass Föderalismus als prinzipiell für ein so großes Land wie Äthiopien geeignetes politisches System, auch auf territorialer statt ethnischer Basis organisiert werden könnte. Auch nicht ohne Konflikte, aber wahrscheinlich weniger explosiv, ausgrenzend, individuelle wie lokale Entfaltungsmöglichkeiten beschneidend - während der große Vorteil dezentraler politischer Organisation erhalten bliebe: lokale Partizipation und Gestaltungsmöglichkeiten je nach den örtlichen Verhältnissen in diesem höchst diversen Land.
Wie immer ausserordentlich kenntnisreich greift schließlich der Ethnohistoriker Wolbert Smidt das äthiopische Dauerthema Ethnizität auf. Sein Beitrag über Geschichte und Geschichtserzählungen zeigt, wie unterschiedlich die verschiedenen Völker in ihren je eigenen traditionsgeprägten Sichtweisen die Geschichte dar- und auch entstellen. Historisch handelt es sich halt ebensowenig um ein einheitliches Land wie heute, sondern vielleicht mehr noch als heute um viele Länder. In diesem Beitrag werden sehr viele Vorstellungen über das Land als das dargestellt, was sie sind: politisch, kulturell und religiös von Siegern und Herrschern geprägte Mythen. In den bekämpften lokalen Kulturen wird die Geschichte jeweils ganz anders dargestellt. Smidt zeigt auch auf, was in der abyssinisch geprägten Geschichtsauffassung fast ganz übersehen wurde, z.B. dass der Kampf von Imam Ahmad ibn Ibrahim al-Ghazi („Ahmad Grang“) im 16. Jhdt gegen den ‘legitimen’ äthiopischen Herrscher kein Aufstand eines Provinzrebellen war sondern der Krieg des Herrschers eines eigenständigen Reiches gegen ein anderes, dessen bereits geschlagener Herrscher die Portugiesen zu Hilfe rufen musste, damit Ahmad doch noch geschlagen und das äthiopische Reich wiederhergestellt werden konnte. Dies ist nur einer von vielen erhellenden Momenten in diesem Beitrag. Auch hier schließlich noch was interessantes zum Thema Föderalismus: was gemeinhin als abyssinischer oder äthiopischer Feudalismus bezeichnet wird, war überwiegend auf mehr oder weniger starke Herrscher in den wechselnden historischen Zentren beschränkt, während in den mehr oder weniger unterworfenen Fürstentümern, Provinzen und Bauerndynastien keine wirklichen feudalen Oligarchien bestanden. Eine Art vielfältiger föderaler Struktur, wohl kaum stets ethnisch und zentralistisch definiert, sondern eher von wechselnden Machtverhältnissen, Rivalitäten und Bündnissen geprägt.
So lande ich wieder bei der gleichen Frage: wäre nicht gerade die Diversität Äthiopiens ein geeigneter Ausgangspunkt für einen nicht-ethnischen Föderalismus, der aus mehr und kleineren Einheiten besteht? Der aktuelle Konfliktherd Oromia z.B. ist für ein Bundesland zu groß und in sich zu unterschiedlich. Auf dieser Ebene sehe ich kaum bessere Perspektiven für lokale Selbstbestimmung als in einem zentralistischen Obrigkeitsstaat. Ethnischer Chauvinismus ist hier derzeit ein besonderer Konfliktfaktor, aber längst nicht nur hier. Wird denn gar nicht daran gedacht, ob dieses Gewaltpotential durch kleinere föderale Einheiten, auch über ethnische Grenzen hinweg, entschärft werden könnte? Die Entwicklungsaussichten würden dabei auch besser. Das größte Potential des Landes liegt schließlich in seiner Vielfalt.