"Ich habe diesen Jugendlichen nichts vorzuwerfen"
Als am Vormittag des 30. Juni die ersten News über den Mord am oromischen Sänger Hachalu Hundesa über den Ticker laufen und alle äthiopischen Internet-Seiten tot sind, versuchen wir zuerst direkt in Addis anzurufen - keine Verbindung. Einer der ersten Anrufe geht deshalb in Deutschland an Dr. Asfa-Wossen Asserate, der unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt - Schüssen und Unruhen in Addis Abeba. Wenige Tage später berichten die internationalen Agenturen von immer mehr Toten in Oromia - 239 ist die jüngste Zahl. Wir vereinbaren ein Interview mit dem Großneffen des äthiopischen Kaisers.
DÄV: Über den Mord an Hachalu Hundesa und die anschließenden Ausschreitungen wurden auch in Deutschland und international viel berichtet. Oft wurde dabei über den Freiheitskampf der Oromos und deren Gefühl der Unterdrückung berichtet. Kann davon seit der Machtübernahme durch Dr. Abiy überhaupt noch die Rede sein?
Dr. Asserate: Ganz und gar nicht. Worum geht es der Oromo Liberation Front? Die OLF gibt es ja schon seit 1974 und in anderer Form eventuell schon seit dem Kaiserreich. Wen will sie von wem befreien? Es hat keine Zeit gegeben in Äthiopien, wo die Oromos gezielt als Völkerschaft ausgesucht wurden, um unterdrückt zu werden. Wenn es in Äthiopien Unterdrückung gegeben hat, dann immer gleichzeitig für alle. Mengistu zum Beispiel hat nie gefragt, ob einer Oromo, Tigray oder Eritreer ist. Er hat alle gleichzeitig unterdrückt oder gleich umgebracht. Die zweite Frage ist, von wem sich die Oromos befreien wollen? Wollen sie sich einerseits von Äthiopien befreien, andererseits aber darauf pochen, dass sie die stärkste Volksgruppe in Äthiopien sind. Das ist doch ein riesengroßes Missverständnis: Wann hat es in der ganzen Geschichte der Menschheit eine Situation gegeben, wo die Mehrheit sich aus einem Staat löst? Wenn lösen sich doch Minderheiten heraus – siehe Eritrea. Was macht die Oromos angeblich so anders als die anderen Äthiopier? Sie sind genauso wie die anderen äthiopischen Völkerschaften ein gemischtes Volk. Es gibt keine Monokultur innerhalb der Oromos, sondern viele Oromo-Völkerschaften. Insofern ist mir das von Anfang an sehr dubios, dass gerade diese Völker, die das moderne Äthiopien aufgebaut haben, sich von diesem lösen möchten. Die Hassfigur der Oromos ist leider Gottes Menelik II. Sie behaupten er sei ein Amhare, aber auch er hat Oromo-Vorfahren. Und dieser Mann ist dafür bekannt, dass er ehemals zu Äthiopien gehörige Gebiete Ende des 19. Jahrhunderts wieder an das Gebiet hinzugefügt hat. In diesem Zusammenhang rede ich nie von einer Conquista, sondern von einer Re-Conquista. Es war eine Wiedereingliederung von Gebieten, die wir im 16. Jahrhundert verloren hatten. Auf alten portugiesischen Karten findet man ein Kreuz für jede äthiopisch-orthodoxe Kirche, die damals gefunden wurde. Bis in die Gebiete Nord-Kenias, den West-Sudan bis hin nach Eritrea hinein. Durch die Invasion der Oromos sind dann viele südliche Gebiete verloren gegangen. Menelik II hat diese verlorenen Gebiete wieder an das Reich angegliedert.
Noch mal zurück zum Gefühl der Unterdrückung, das die Oromos haben. Ist es nicht vielmehr so, dass die äthiopische Bevölkerung und gerade die überwiegend jungen Menschen mehr demokratische Teilhabe und vor allem mehr wirtschaftlichen Wohlstand brauchen? Egal ob in Oromia, Amhara, Tigray, Somali, Afar oder Gambella? Gerade letztere sind ja die, die in dem gerade zu Ende gegangenen System nicht so repräsentiert worden sind, wie zum Beispiel die Oromos, Amhara oder Tigray.
Das ist absolut richtig. Zum Thema Nicht-Repräsentiert-Sein der Oromos muss man sich fragen, wann sie angeblich nicht repräsentiert waren. Menelik II war der erste Kaiser, der überhaupt ein Kabinett hatte – und vier von seinen ersten sieben Ministern waren Oromo. Und da hab ich noch nicht von seinen Generälen uns seinen höchsten Würdenträgern geredet, die zum größten Teil aus dem Volk der Oromo stammten. Und auch bei Kaiser Haile Selassie, der ja selbst auch über seinen Vater Ras Mekonnen oromisches Blut in sich trug, waren viel Generäle und hohe Beamte Oromos. Und so kommen wir dann zur äthiopischen Geschichte und deren Vermittlung: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einem Land mit mehr als 110 Millionen Menschen leben, von denen 85 Prozent jünger sind als 25 Jahre. Der Anführer der Qeerroo Jawar Mohammed ist gerade einmal 36 Jahre – er war also sechs Jahre als Meles an die Macht kam. 85 Prozent der Äthiopier kennen also keine andere Regierung als die von Meles Zenawie. Ich habe diesen Jugendlichen nichts vorzuwerfen – woher sollen Sie das lernen, was ich gerade über die Geschichte erklärt habe? Wer hat ihnen denn die Geschichte Äthiopiens beigebracht? Ich halte die Oromos in meiner Generation für schuldig, die in Europa 40 oder 50 Jahre sitzend, ihren Kindern nicht anderes als eine Fake-Geschichte von Äthiopien, Rache und Hass gelehrt haben. Deshalb sind die konfus – die haben keine blasse Ahnung und plappern nur das nach, was ihnen ihre Väter gesagt haben. Das sind die Schreibtischtäter, die ich wirklich anklagen möchte. Ansonsten haben Sie Recht: Die jungen Männer aus Oromo leben auch im 21 Jahrhundert und haben genau dieselben Träume wie alle anderen jungen Männer in Äthiopien oder Afrika: anständig zu leben, auf die Schule und die Universität gehen zu können. Um dann einen guten Job zu bekommen und die Eltern und die Familie zu unterstützen.
Warum gehen nicht alle Unzufriedenen - egal welcher Ethnie - in Äthiopien zusammen Hand in Hand und fordern mehr Teilhabe und wirtschaftliche Perspektiven?
Das ist ja genau die Forderung, mit der Dr. Abiy vor zwei Jahren an die Macht gekommen ist. Und wir hatten ja die Hoffnung, dass wir soweit wären die Probleme, die wir alle gemeinsam haben, adressieren zu können. Aber leider Gottes war das vielleicht schon zu spät, weil in den letzten 40 bis 50 Jahren der Jugend von den Menschen meiner Generation nur Hass und Rache gepredigt worden ist. Und die sagen sich jetzt: Ich bin kein Teil dieses modernen Äthiopiens. Letztens sah ich ein Video mit einem sechsjährigen Oromo, natürlich von seinen Eltern getrimmt. Es war erschütternd …
Was sind die tiefer liegenden Ursachen dieser andauernden Krise, die immer wieder tödliche Ausbrüche hat? Sehen Sie irgendwelche Lösungen?
Der Ursprung allen Übels ist die rassistische Konstitution, die wir 1991 bekommen haben. Alles, was wir heute sehen ist nichts anderes als die Ernte der Saat, die wir damals gesät haben. Äthiopien ist ein Land, dass so stolz sein kann: Weil wir am meisten aller Länder dafür getan haben, den Prozess der Dekolonialisierung in ganz Afrika durchzusetzen. Wir waren die ersten, die die afrikanischen Freiheitskämpfer wie Mandela, Kenyatta und andere unterstützt haben. Äthiopien war als einziges afrikanisches Land Gründungsmitglied der UNO – bei jeder Session haben wir die Dekolonialisierung auf die Tagesordnung gebracht. Die „Organisation für Afrikanischen Einheit“ (Vorgänger der Afrikanischen Union – Anm. der Redaktion) hatte von Beginn an seinen Sitz in Äthiopien. Wir haben den panafrikanischen Geist seit dem 19. Jahrhundert in alle Welt getragen. Und dass ausgerechnet dieses Land das einzige in Afrika sein sollte, das eine Apartheids-Verfassung hat, macht mich sehr traurig.
Also geht es auch um einen neuen Föderalismus?
Ich traue mich heute nicht von Äthiopien als einem föderalistischen Staat zu sprechen. Es ist ein Apartheidsstaat. „Kilil“ (die äthiopischen Regionen – Anm. der Redaktion) ist gleich Homelands. Blick zurück nach Südafrika: 1948 kommt bei den Parlamentswahlen Südafrika die fundamentalistische Burenpartei unter der Führung von Daniel François Malan an die Macht. Er gilt als Vater des Apartheidsregimes. Zwei Tage später gibt er eine internationale Pressekonferenz und ein englischer Journalist fragt: „Was ist denn dieses komische Zeug namens Apartheid, was sie uns hier vorstellen wollen?“ Und er gab wortwörtlich die Antwort „Apartheid ist nichts anderes als eine ethnische Föderation.“ Und das ist das was Äthiopien offiziell seit 30 Jahren hat. Es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen Staat mehr, der dieses System hat. Seit dem Bestehen der Menschheit hat es überhaupt nur zwei Staaten in dieser Form gegeben: Südafrika, wo dieses System Gott sei Dank tot ist – und Äthiopien … Äthiopien ist der einzige Staat in ganz Afrika, wo in den Personalausweisen das Wort Rasse steht. Unsere Brüder und Schwester in Namibia, dem jüngsten Staat, der in die Unabhängigkeit entlassen wurde, sind dagegen glückliche Leute: Da steht in der Verfassung, dass weder ein Minister, noch ein Richter, noch eine Polizist das Recht haben einen namibischen Bürger nach seiner ethnischen Zugehörigkeit zu fragen. Das ist das Paradies auf Erden.
Wie käme denn Äthiopien auch dorthin? Was wären hierfür die konkreten nächsten Schritte?
Wir haben jetzt die Situation, dass sich Dr. Abiy legitimieren will und auf Neuwahlen pocht. Mir wäre es viel lieber, wenn man gesagt hätte: Wir geben uns zwei Jahre Zeit, Abiy bleibt Interims-Ministerpräsident und es wird eine verfassungsgebende Versammlung einberufen. Mit Vertreten aus allen Teilen der Bevölkerung: Professoren, Bürger – alle die, die Äthiopien repräsentiert, auch Vertreter der Ethnien. Und diese entwickeln eine wahrliche föderale Verfassung passend zu den äthiopischen Verhältnissen, wie wir sie in Indien, der Bundesrepublik Deutschland oder auch in den Vereinigten Staaten haben. Danach wird dann das äthiopische Volk in einem Referendum gefragt, ob es diese Verfassung akzeptiert. Und erst danach sollte man dann Wahlen durchführen. Dann können wir aufbauen, was Äthiopier seit mindestens 50 Jahren geträumt haben: eine wahre demokratische Republik.
Wie realistisch sehen Sie Ihren Vorschlag selbst?
Die nächsten Tage werden uns zeigen, inwieweit dieser Traum noch geträumt werden kann. Ich sehe nur keine Alternative. Wollen wir wirklich diesen Weg des Ethno-Fundamentalismus weitergehen? Wollen wir Ethno-Nationalisten im Land weiter kultivieren und peu à peu in einen Bürgerkrieg hineinschlittern? Wenn wir zu ethnischen Differenzen Nein sagen, dann müssen wir diesen Weg gehen. „Die Würde des Menschen in unangreifbar und unantastbar“ – dieser Satz muss für alle Ethnien in Äthiopien gelten. Ich wünsche mir für Äthiopien einen freien Rechtsstaat. Was Demokratie ist und was demokratisch, das sind Sachen, über die man noch 100 Tage lang diskutieren kann. Mir geht es um einen freien Rechtsstaat, in dem jeder Äthiopier das Gefühl gerecht behandelt zu werden, keiner einen Vorzug bekommt – alle Äthiopier sind vor dem Gesetz gleich. Das ist das, was wir unseren Völkern in Äthiopien garantieren müssen.
Wir haben zu diesem Thema im Dezember 2015 das erste Mal telefoniert und sie sagten: „Es muss mit einem Wunder zugehen, wenn Äthiopien in fünf Jahren noch in dieser Form existiert“ – wir haben immer wieder gesprochen – sie waren auch schon hoffnungsfroher, was die Zukunft Äthiopiens betrifft. Wir haben noch ein paar Monate bis zum Ende der fünf Jahre. Wie wird es Endes diesen Jahres aussehen und danach?
Gerade in den letzten Wochen bin ich wieder viel pessimistischer geworden. Eines weiß ich jedoch: Äthiopien hat eine letzte Chance. Wenn es Abiy gelingt das in die Wege zu leiten, was die meisten Äthiopier wünschen: endlich ein friedliches, wahrhaftes föderalistisches, demokratisches und gerechtes Äthiopien zu schaffen. Dann wird Äthiopien eines der blühenden Länder Afrikas. Eine zweite Chance wird es jedoch nicht geben. Wir müssen alles auf eine Karte setzen – und diese Karte heißt Abiy Ahmed.
Das Gespräch führte Alexander Bestle, Pressereferent des Deutsch-Äthiopischen Vereins.