"Die überwiegende Mehrheit lebt friedlich-schiedlich zusammen"

Christen und Muslime leben in Äthiopien überwiegend friedlich miteinander - in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es jedoch einige gewaltsame Konflikte. Auch ethnische Auseinandersetzungen sind vermehrt religiös konnotiert. Im Rahmen unseres Äthiopien-Forums diskutieren wir am 20. März deshalb zu der Frage "Christentum & Islam: Dialog oder Entfremdung?" - mit dabei sind Dr. Andreas Wetter und Dr. Jürgen Klein. Dieser hat gerade eine Dissertation zum Thema "Christlich-Muslimische Beziehungen in Äthiopien" fertig gestellt - wir haben ihm vorab ein paar Fragen gestellt. Gemeinsam ist es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass die kurzen Antworten die Komplexität der Themen nur stark verkürzt wiedergeben können.

DÄV: Äthiopien ist sehr stolz auf das friedliche Miteinander von Christen und Muslimen – zu Recht?

Klein: Ja, das stimmt im Großen und Ganzen. Trotz diverser Konflikte leben Christen und Muslime in der überwiegenden Mehrheit friedlich-schiedlich zusammen, und arrangieren sich, je nach dem jeweiligen Kontext von Mehr- und Minderheitssituationen, mal rechter oder schlechter. Der Sinn für soziale Interaktionen wie Nachbarschaftshilfe oder Kooperationen in Hilfsvereinen, beispielsweise bei Beerdigungen, ist insgesamt aber gut ausgeprägt.

DÄV: Können sich andere Länder hier etwas abschauen?

Klein: Auf jeden Fall ist es lohnenswert für andere Länder, das engmaschige Wertesystem Äthiopiens kennenzulernen, wo Werte wie Gemeinsamkeit, einander achten, diplomatische Toleranz, Kooperation und die Fähigkeit, bei Konflikten durch versöhnende Aktivitäten zu friedlichen Verhältnissen zurückzufinden, praktiziert werden. Auch die Aktivitäten im Kampf gegen den religiös-konnotierten Radikalismus sind beachtenswert.

DÄV: Bekommt diese friedliche Koexistenz Risse? Wenn ja warum? Wer hat ein Interesse an einer Spaltung?

Klein: Es gibt radikal-extreme und ideologische Auffassungen, die die positiven Intentionen der Religionen verdrehen und über die Grenze des theologisch und religiös gemeinsam Akzeptierten hinausgehen. Die Infiltration von religiös konnotierten Ideologien, hinter denen oftmals religiöse Expansionsansprüche oder machtpolitische Interessen von außen und innen stehen, kann zu Rissen im friedlichen Miteinander religiös diverser Menschen führen. Das sind sowohl vermeintlich „christliche“ als auch „muslimische“ Radikale, die im Namen der Religion durch Worte, Schriften und Aktionen zu Gewalt aufrufen und Konflikte zündeln. Sie sind kaum pluralitätsfähig und meinen, ihre eingeschränkte Sicht sei die maßgebende, die es mit allen Mitteln durchzusetzen gilt. Das erleben wir aber weltweit, und auch in anderer Form bei uns.

DÄV: Die ethnischen Konflikte in Äthiopien werden auch immer öfter entlang religiöser Unterschiede definiert. Wie ist das passiert?

Klein: Religion wird von Radikalen für die Durchsetzung ethnisch-motivierter und politischer Interessen missbraucht. Das ist nichts Neues weltweit, in Afrika, und auch in einem Vielvölkerstaat wie Äthiopien nicht. Die Wut aufgrund von jahrzehntelanger politischer Unterdrückung, Ausnutzung oder der Perspektivlosigkeit aufgrund von konstanter Armut entlädt sich an denjenigen, die politisch, ethnisch und religiös dafür verantwortlich gehalten werden – mit Religion selbst hat das ganz wenig bis gar nichts zu tun!

DÄV: Wer hat ein Interesse an einer interreligiösen Kooperation?

Klein: Es gibt ein Netzwerk der Kooperation, einen Kooperationsraum, in dem religiöse und nichtreligiöse Zivilorganisationen agieren. Das sind Faith Based Organisations (FBOs) wie die Religionsgemeinschaften und der Inter-Religious Council of Ethiopia (IRCE), oder
Hilfsorganisationen und NGOs wie Norwegian Church Aid und viele andere. Das sind aber auch Universitäten und Regierungseinrichtungen wie das neue Ministry of Peace, das bemüht ist, mit den Zivilorganisationen auf der Schiene der Entwicklungsarbeit zu kooperieren. Seit den größeren Konflikten 2006 und 2011 im Südwesten Äthiopiens und anderswo läuft eine breit angelegte Antiradikalismuskampagne, die ich intensiv erforscht habe.

DÄV: Welche Tendenz wird sich langfristig durchsetzen?

Klein: Je mehr es zu Auffassungen kommt, in denen das Anderssein der Andersreligiösen nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung der Identität verstanden wird, desto stärker werden sich kooperierende Formen des Zusammenlebens gegenüber konfliktiven
Verständnis- und Aktionsformen durchsetzen. Das ist die Hoffnung. Dazu ist allerdings noch viel Verständigungsarbeit nötig.

Die Publikation der Dissertation mit dem Buchtitel "Christlich-Muslimische Beziehungen in Äthiopien. Interreligiöse Situation – Konflikträume – Verstehenszugänge" wird derzeit vorbereitet und spätestens in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 erscheinen.

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