Dereje Feyissa Dori: "Politische Systeme in Äthiopien"

Aksum und sein Erbe. Die Entwicklung staatlicher Strukturen in Nordäthiopien geht auf die Antike zurück. Das bekannteste und am höchsten entwickelte Staatswesen war Aksum mit einem Zugang zur Küste des Roten Meeres. Aksum entstand vermutlich im 2. Jh.v.Chr. Die aksumitische Zivilisation kam im 3. Jh. n.Chr. zur Entfaltung, was bis heute erhaltene Monumente und Münzen als Teil seiner materiellen Kultur eindrucksvoll belegen. Die aksumitische Gesellschaft zeich­nete sich durch eine archaische Struktur, ein eigenes Schrifttum und einen Königsklan „göttlicher Herkunft“ aus. Schreiben und Lesen blieb Priestern vorbe­halten und den Schreibern, die die Ereignisse des Reiches festhielten und die Verwaltung führten. Der aksumitische Staat hatte einen absoluten Herrscher, der die Einheit von Religion und Politik verkörperte. Die Könige Aksums waren Teil der religiösen Ordnung; man sah sie als Abkömmlinge der Götter an. Das galt insbe­sondere für den Kriegsgott Mahrem (griechisch Ares). Der Titel Negusa nagast („König der Könige“) wurde zum Sinnbild für die politisch-militärische Macht des Herrschers.

Aksum gilt als Wiege des christlichen Äthiopien. Die Einführung des Christentums und die Konversion des aksumitischen Königs im 4. Jh. bestimmten maßgeblich die spätere Staatsbildung Äthiopiens. Seine Könige formten den Nationalstaat, jedoch nicht nur mittels der politischen Zentralmacht, sondern auch durch eine Vereinheit­lichung der Kultur: sie zwangen die verschiedenen ethnischen und religiösen Ge­meinschaften im Land, den orthodoxen Glauben und die äthiopische Sprache anzunehmen. Zur herrschenden Klasse gehörten Kaiser, Adel, Klerus und Militär. Die Kirche bot das ideologische Fundament des Reiches und unterstützte später den Anspruch der Abstammung des Herrschers vom biblischen König Salomo. Sie recht­fertigten damit ihren Machtanspruch. Als Gegenleistung wurde der äthiopischen Kirche später ein Drittel des Landbesitzes zugesagt. Im Unterschied zu den Macht­optionen der Könige von Aksum konnte die unabhängige Gelehrtenschicht der Kirche das national-religiöse System Äthiopiens weit verbreiten. Zum Wesen des politischen Gefüges gehörte der Umstand, dass die Staatsgewalt nicht auf die Kontrolle an Grund und Boden gegründet war, sondern dass dies durch die Herrschaft über die Menschen geschah, die das Land bearbeiteten, die Bauern. Über das Rest-System (Familienerbe) erhielt die ländliche Bevölkerung Zugang zu Land. Rest bedeutete, dass alle männlichen und weiblichen Nachkommen eines Eigentümers Anrecht auf einen Teil des Landes hatten (aufgehoben 1973). Dem Rest-System übergeordnet war die Gult-Struktur. Daraus leitete sich das Recht des Adels auf einen Teil der Erträge ab (eine Art Lehensrecht), die als Tribut oder als Steuer in Form von Geld und Naturalien oder als Arbeitskraft zu entrichten waren und an die Grundbesitzer zu zahlen war.

Muslimische Politik. Es gab weitere Zentren mit staatlichen Strukturen in Äthiopien. Während im nördlichen Hochland das orthodoxe Christentum die Ideologie für die Entwicklung des Staatswesens stellte, bot der Islam im zentralen, südöstlichen und südwestlichen Hochland eine vergleichbare Ideologie. Sultanate wie Ifat und Adal als bekannteste Vertreter entstanden in Zentraläthiopien bereits im 10. Jh. Sie kon­kurrierten mit dem christlichen Reich vom 13. bis 16. Jh. um Handel, Handelsrouten und politische Macht. In diesem Kampf setzte sich der christliche Staat durch, unterlag allerdings kurzzeitig im ersten Viertel des 16. Jh., als Ahmad Ibn Ibrahim al-Ghazi (Grany) Äthiopien unterwarf. Mit dem Sieg über Granys Armeen verloren die muslimischen Sultanate an Macht, überlebten aber, wenn auch deutlich reduziert, weiter im wirtschaftlich bedeutenden Stadtstaat Harar.

In Südäthiopien lag ein drittes Siedlungsgebiet, das eine Reihe von staatlichen Ein­heiten hervorbrachte, teils tributpflichtig, teils unabhängig vom christlichen Imperium. Diese Königreiche waren von traditionellen Glaubensvorstellungen geprägt. Die poli­tisch mächtigsten und einflussreichsten von ihnen waren die Reiche der Kafa und Walayyta. Eine weitere Organisationsform äthiopischer Gesellschaften stellt die rituelle Königsherrschaft dar. Die Anywaa im westlichen Gambella sind deren klassische Ver­treter. Sog. Vorsteher oder Adlige galten als spirituelle Führer ihrer dörflichen Gemein­schaften. Sie bemühten sich kaum, andere Gebiete zu erobern.

Auch wenn Konflikte zwischen den Anywaa zum Alltag gehörten, resultierten daraus keine territorialen Ansprüche. Gegenstand der Kämpfe zwischen Anführern und Adligen waren überwiegend königliche Insignien oder andere Zeichen der Macht. Symbole der Häuptlings- oder Königswürde bestanden vor allem aus wert­vollen Perlen, einem Thron und besonderen Speeren.

Die Oromo und die Altersgruppen. Ganz anders als die südlichen Königreiche organisieren sich die auf Altersklassen basierenden Gesellschaften mit einem eher integrativen, nichthierarchischen Ansatz der Gemeinschaft. Das sich an Generationen orientierende Gadaa-System der Oromo ist repräsentativ für diese Form sozialer Organisation (so bei den Konso, Dirasa und Sidaama). Alle männlichen Mitglieder werden in Gruppen zusammengefasst, die sich nach der Zugehörigkeit zu einer Generation richten, aber nicht nach Alter oder väterlicher Abstammungslinie. Alle Söhne der Männer einer Generation bilden eine eigene Gruppe. Weil jede Generationengruppe Personen unterschiedlichen Alters vereint, werden sie jeweils in fünf Altersgruppen unterteilt. Alle acht Jahre steigt jede Gruppe in die nächste, höhere auf. Jede Klasse hat eigene Rechte und Pflichten – vom Hirten im Kindesalter über junge Krieger zu reifen Entscheidungsträgern und weisen Ältesten. Auf diese Weise werden soziale Rollen in einer lebenslangen Abfolge verteilt, wobei der Führungsanspruch von einer Generationengruppe auf die nächste übertragen wird. Außerdem wählen die Mitglieder der führenden, im Gerichtswesen entscheidenden Generationengruppe aus ihren Reihen die Repräsentanten bzw. Oberhäupter. Die Versammlung von Generationengruppen im Schatten heiliger Bäume wie der Sykamorenfeige ist eines der herausragenden Symbole im demokratischen Wertekanon der Oromo. Es zielt auf eine ununterbrochene Abfolge von Argumentation und Bestätigung ab und darauf, den Frieden (Nagaa) zu bewahren.

Segmentäre Systeme. Eine völlig andere politische Ordnung verkörpert die segmen­täre Gesellschaft der Hirtengemeinschaften West- und Ostäthiopiens. Die Nuer, die in Westäthiopien und im Südsudan leben, sind der Prototyp der politischen Organi­sation jener „Stämme ohne Herrscher“ (so Somali und Gurage), in der die väterliche Linie beim Fehlen einer Zentralinstanz zum Maßstab der gesellschaftlichen Solidarität wird. Im segmentären Abstammungssystem gilt die Herkunft väterlicherseits als grundlegender Wert, darauf gründet sich das politische System. Das Abstammungs­system und die politische Ordnung entfalten sich in zwei Bereichen: den väterlichen Linien (Klane und Abstammungslinien) und den territorial abgrenzbaren Stämmen. Abgesehen vom ideologischen Rahmen sind Abstammungslinien ein wesentlicher Bezugspunkt für die Nuer, um die Regeln der Exogamie zu befolgen. Zudem dienen sie als Grundlage bei der Ausübung von Ritualen. In segmentären Gesellschaften sind „Stämme“ weitaus anpassungsfähiger und integrativer als das herkömmliche Ver­ständnis des Begriffes Stamm vermuten lässt. So fühlen sich Mitglieder anderer Klane und erst recht Außenstehende einem bestimmten „Stamm“ verbunden, dem sie durch Heirat oder andere Formen sozialen Austauschs angehören, so dass letztlich eine wachsende politische Gemeinschaft entsteht. Vor diesem Hintergrund sind segmentäre Gesellschaften durchaus offen für Assimilierungsprozesse.

Christliche Expansion. Diese unterschiedlichen politischen Systeme wurden Ende des 19. Jh. dem expandierenden christlichen Imperium einverleibt. Nach den beiden großen Herausforderungen – die islamischen Sultanate und die Oromo-Migration im 16. und 17. Jh. – erstarkte der äthiopische Staat erneut im Zentralmassiv: das Königreich von Shawa entstand. Dank kluger, politischer und militärischer Führer hielten sich die Könige Shawas aus den zerstörerischen Konflikten im 18. und des 19. Jh. heraus, die als „Zeitperiode der Fürsten“ (Zamana Masafent) bekannt sind, in der die Monarchie zerfiel und selbsternannte lokale Machthaber als Königsmacher regierten. Die Könige von Shawa festigten ihre Stellung durch Expansion nach Süden weit über das christliche Königreich des Mittelalters hinaus. Sie knüpften diplomatische Beziehungen zu Europa, um den Handel und den Zugang zu Feuerwaffen auszubauen. Militärisch gerüstet machte sich König Menilek II. daran, die territoriale Erweiterung nach Süden, Westen und Osten voranzutreiben. Der ökonomische Reichtum der eroberten Gebiete wiederum ermöglichte es ihm, seinen Anspruch auf den Kaiserthron gegenüber den Königen im Norden geltend zu machen und schließlich zum „König der Könige“ gekrönt zu werden. Die Aufgabe, Menileks Reich zu festigen und zu modernisieren, fiel Kaiser Hayla Sellase (reg.1930–1974) zu.

Jüngste Umbrüche. Die Erneuerung Äthiopiens förderte soziale Widersprüche und wachsende Forderungen verschiedener Gesellschaftsschichten zutage. Die ideologische Basis des äthiopischen Reiches wurde von den Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, die politische Veränderungen und eine Bodenreform forderten, erschüttert und von regionalen und ethnisch-autonomen Bewegungen, insbesondere den separatistischen Befreiungsbewegungen in Eritrea, infrage gestellt. Nach einem Jahrzehnt der Studentenproteste schritt eine Gruppe von Militärs ein und stürzte den Kaiser und mit ihm eine der ältesten Monarchien der Welt. In der Folge versuchte die Militärregierung, der Darg, eine neue politische Ordnung nach den Prinzipien des Sozialismus zu errichten. Mit dem Anspruch, „echte“ sozialistische Organisationen zu sein, forderten mehrere politische Parteien und Freiheitsbewegungen, die aus der Studentenschaft hervorgingen, den Darg politisch und militärisch heraus. Zwar gelang es zunächst, städtisch geprägte marxistische Parteien wie die Ethiopian People´s Revolutionary Party (EPRP) niederzuschlagen, ländliche marxistische Freiheits­bewegungen wie die Tigray People´s Liberation Front (TPLF) hielten jedoch stand und stürzten den Darg. Ende der 1980er war die TPLF die stärkste Unabhängigkeits­bewegung und bildete eine Koalition mit Splittergruppen von EPRP und anderen ethnisch-politischen Vereinigungen. Daraus entstand eine landesweite Partei, die Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF).

Die EPRDF stürzte 1991 den Darg und übernahm die Kontrolle über den äthiopischen Staat, den es in der Folge radikal veränderte. Den Jahrhunderte alten, von politischer Zentralisation und kultureller Vereinheitlichung geleiteten Prozess der Nationenbildung umkehrend, begründete die EPRDF eine Ordnung, die die kulturelle Vielfalt akzeptiert. Das Land wird als Föderation auf der Basis ihrer Völker neu organisiert. Den “Nationen, Nationalitäten und Völkern” Äthiopiens wird laut Verfassung die Selbstbestimmung gewährt bis hin zur möglichen Sezession, sollten die Rechte durch die föderale Regierung verletzt werden. Die äthiopische Föderation umfasst neun nach ethnischen Kriterien gegliederte Staaten und zwei Stadtstaaten, die Hauptstadt Addis Ababa und Derre Dawa.                  

Literatur: Donald Crummey, Land and Society in the Christian Kingdom of Ethiopia: From the 13th to the 20th Century, Chicago, IL 2000; Edward Evans-Pritchard, The Nuer: A Description of the Modes of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic People, Oxford 1940.

Dereje Feyissa, Addis Ababa University

Dieser Artikel ist erschienen im Handbuch: Politische Systeme in Äthiopien“ aus „Athiopien – Geschichte, Kultur, Herrausforderungen“ (Hrsg. u.a. S. Uhlig ). Das Buch kann bestellt werden direkt bei der Deutsch-Äthiopien Stiftung oder bei ProEthiopia.

 

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