Warum Äthiopiens Stabilität gefährdet und doch so wichtig ist

Ein Gastkommentar von Dr. Alfred Schlicht

Der Ukrainekrieg hat den inneräthiopischen Konflikt in den Hintergrund gedrängt, auch wenn er weiter schwelt und in den Lokalmedien weiterhin eine Propagandaschlacht tobt. Wer dort heute der äthiopischen Regierung Menschenrechtsverletzungen in Tigray vorwirft, sollte nicht vergessen, dass es die TPLF war, die den Konflikt mit Gewaltakten und Massakern begonnen hat. Der Überfall auf die äthiopische Militärbasis in Tigray und die Gewaltexzesse gegen amharische Wanderarbeiter in May Kadra.

Im Herbst 2020 haben von Anfang an die Stimmung vergiftet und gezeigt, dass es hier nicht um die legitimen Interessen einer Ethnie oder Region des Vielvölkerstaats ging, sondern um eine gewaltsame Revolte. Hier nicht mit harten Massnahmen zu antworten, hätte Äthiopien ins Chaos stürzen können. Erste Anzeichen dafür gab es schon früh: Im Westen des Landes kam es im November und Dezember zu ethnischen Gewaltausbrüchen, die Hunderte von Toten forderten – bei uns kaum zur Kenntnis genommen.

Seit in Äthiopien von Föderalismus gesprochen wird als sinnvolle Formel für einen ethnisch und religiös diversen Staat, haben ethnische und auch religiöse Konflikte und Gewaltakte zugenommen – was nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein scheint. Das Konzept des Föderalismus ist im politischen Bewusstsein am Horn von Afrika nicht wirklich präsent. Immer hat eine Ethnie - und damit eine Region - den äthiopischen Gesamtstaat kontrolliert oder zumindest eine führende Rolle gespielt. Das waren zunächst die Amharen als äthiopisches Staatsvolk par excellence und die Region Schewa, dann seit dem Sturz des Mengistu-Regimes Anfang der 1990er-Jahre die TPLF und Tigray.

Deren Diktatur beendete Ministerpräsident Abiy Ahmed. Er reduzierte die Rolle der TPLF, ließ politische Gefangene frei und liberalisierte die Medien. Die Hoffnung auf ‚Föderalismus’, die es schon lange in Äthiopien gab, blühte in dieser neuen Atmosphäre wieder auf. Die verschiedenen Ethnien, allen voran die Oromo, die die grösste nationale Gemeinschaft in Äthiopien darstellen, versuchten nun, ihre Position im Land auszubauen und möglichst ihre Rolle in Äthiopien zu stärken – und dies durchaus auch mit Gewalt. Dass es gerade auch von Seiten der Oromo zu schlimmen Gewaltakten kam, obwohl doch gerade einer der Ihren, Abiy Ahmed, an der Macht war, hat mit einem Widerspruch zu tun: Abiy Ahmed wollte wirklichen Föderalismus, viele Oromos jedoch vor allem eine Dominanz ihrer Ethnie. Ähnlich verhielt es sich mit der TPLF – wenn es Tigray mit nur knapp sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung nicht gelang, weiterhin Äthiopien zu kontrollieren, so schien ein unabhängiger Staat Tigray die Alternative zu sein. Dies bedrohte nicht nur die Existenz Äthiopiens – denn eine Loslösung der Nordprovinz hätte auch auf somalische Islamisten im Osten, die Oromo, die Afar im Norden, die bereits gewaltbereiten Gummuz im Westen [Beni-Shangul] und viele andere eine katalysatorische Wirkung. Auch Eritrea würde einen unabhängigen Tigraystaat an seiner Südgrenze als Gefahr empfinden, ein neuer Waffengang wäre vorprogrammiert, waren doch die äthiopisch-eritreischen Konflikte 1998/2000 vor allem eine Auseinandersetzung zwischen EPLF und TPLF gewesen. So ist das Zusammenwirken der äthiopischen und eritreischen Regierung gegen die TPLF zu verstehen, wenn natürlich Menschenrechtsverletzungen dadurch nicht zu rechtfertigen sind. Der im April 2021 ernannte US-Sondergesandte für das Horn von Afrika, Jeffrey Feltman, sagte, wenn Äthiopien zusammenbreche, würde der syrische Bürgerkrieg dagegen wie ein Kinderspiel wirken. Ein solches Szenario könnte in der Tat das gesamte Horn von Afrika destabilisieren. Deshalb müssen auch die USA und nicht zuletzt auch die EU ein Interesse daran haben, eine konsolidierende Rolle in Äthiopien zu spielen – auch wenn im Moment die osteuropäischen Probleme als dringlicher empfunden werden.

Der Islamwissenschaftler Dr. Alfred Schlicht ist Autor des 2021 erschienenen Buches "Das Horn von Afrika: Äthiopien, Dschibuti, Eritrea und Somalia: Geschichte und Politik"

 

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